Wenn ich mir Autor*innen anschaue, die zum Teil mehrere Romane pro Jahr veröffentlichen, bin ich gleichermaßen beeindruckt wie verunsichert. Wie machen die das? Wie schaffen die es, so schnell und gleichzeitig tiefgehend und komplex zu schreiben? Oder machen die das gar nicht, sondern legen mehr Wert auf Masse? Warum brauche ich eine gefühlte Ewigkeit, um auch nur eine einzige Geschichte fertig zu schreiben? Und welches Vorgehen ist besser, sinnvoller, langfristig Erfolg versprechender? Fragen über Fragen.
Ich sitze zum Teil an einigen meiner Geschichten Wochen, wenn nicht Monate, bis ich endlich bereit bin, sie in die Welt zu ent- bzw. auf die Leserschaft loszulassen. „Endstation“ hat mich insgesamt Monate gekostet, bis es soweit gereift war, dass ich es als fertig angesehen habe. Zum einen lag das am immer noch aktuellen Zeitmangel, den mein Hauptberuf mit sich bringt, zum anderen weist „Endstation“ eine sehr komplexe Geschichte auf, die sich erst beim mehrmaligen Lesen richtig entfaltet. Zoe ist mir als Charakter so sehr ans Herz gewachsen, dass ich darüber nachdenke, wie ich sie irgendwo anders noch einmal auftreten lassen kann. Der Plot von „Endstation“ macht das allerdings schwierig …
Ich habe festgestellt, dass ich eine Geschichte erst loslassen kann, wenn ich irgendwo tief in mir spüre, dass sie fertig ist. Das hat weniger mit Umfang und Story, als mit einem unbestimmbaren Gefühl zu tun, dass es irgendwann Zeit ist, weiterzuziehen, sich anderen Dingen zuzuwenden. Als ich „23b“ fertiggestellt hatte, Jills Geschichte erzählt hatte, war es ein sehr, sehr schönes Gefühl, viel positive Rückmeldung zu dem Werk zu erhalten, in das ich viel Zeit, Kreativität und Emotion gesteckt hatte. Nicht zuletzt deshalb, weil jede meiner Geschichten eine sehr private Angelegenheit ist, bedeutet es mir viel, wenn ich auch andere Menschen damit bewegen kann.
„Isabelle“, eine Geschichte um die gleichnamige Hauptfigur, die ich in den nächsten Wochen nach einer nicht nur gefühlten Ewigkeit endlich fertigstellen werde, wird mich erneut vor die Herausforderung stellen, irgendwann loslassen zu müssen. Bis dahin muss die Geschichte sprachlich perfekt werden, inhaltlich spannend und packend erzählt, die Figuren müssen greifbar, Motivationen nachvollziehbar sein und – am wichtigsten – die Twists müssen sich gemein von hinten anschleichen, um den Leser dann unerwartet ganz tief mit in die Hölle zu ziehen.
Ich schreibe Horror und Science-fiction, wobei mich im Moment ersteres Genre deutlich mehr beschäftigt. Jede Figur, jede Geschichte, jede Grundidee und jeder einzelne Handlungsstrang haben ihre Bedeutung, nicht nur für die Geschichte, sondern für mich. In „Scherben“ wird das besonders deutlich werden – oder auch nicht, denn ich werde niemals, wirklich niemals, eine Interpretation dieser Geschichte geben. Sie wird die mit Abstand persönlichste werden und damit sogar „Susan“ noch deutlich in den Schatten stellen. Wer mich jedoch kennt und die Hintergründe verstehen kann, wird vielleicht begreifen, wieso mir Perfektion so wichtig ist. Es ist, als würde man Erinnerungen, die guten und die schlechten, aus dem Verstand extrahieren und wie in Bernstein konserviert in eine Geschichte gießen. Ist es nicht perfekt, ist es nichts wert. Dann bleibt es lediglich der gescheiterte Versuch, etwas loszuwerden, etwas von-sich-zu-schreiben, ein trauriges Erkennen der eigenen Unfähigkeit.
Ich feile an jedem Satz, jedem Wort, jedem Detail. Kleinigkeiten, die irgendwo beiläufig erwähnt werden, haben Bedeutung, vage Andeutungen ergeben schlussendlich einen Sinn – von Zeitsprüngen und asynchroner Erzählweise ganz zu schweigen. Jede Geschichte legt allein durch ihre Struktur Zeugnis davon ab, wie intensiv es war, sie zu schreiben. Meine Plots sind immer mehr als nur eine geradlinige Aneinanderreihung von Ereignissen, sind immer auch philosophischer Exkurs, sind immer auch Herausforderung meiner Leser*innen. „Endstation“ in all seinen Facetten und Ebenen zu verstehen oder „23b“ zu interpretieren, erfordert ein hohes Maß an Bereitschaft, sich in meine Gedankenwelten hineinzuversetzen. Dass meine weiblichen Hauptfiguren dabei häufig idealisierte Abbilder dessen sind, was ich mir wünsche, wonach ich mich sehne, ist ein offenes Geheimnis. Gleichzeitig verkörpern sie alle philosophische Ideen, auch wenn die Geschichten das beim ersten Lesen vielleicht nur erahnen lassen.
Derartiger Perfektionismus ist Fluch und Segen gleichermaßen. Ich bekomme Rückmeldungen zu meinen Geschichten, die begeistert sind, die mir zeigen, dass ich irgendetwas richtig gemacht habe, und gleichzeitig weiß ich, dass meine Produktionsgeschwindigkeit so niedrig ist, dass es unwahrscheinlich ist, jemals mit dem Veröffentlichungstempo anderer Autor*innen gleichziehen zu können. Doch jedesmal, wenn ich Geschichten anderer in die Finger bekomme und bereits nach kurzer Zeit merke, dass nicht mit derselben erzählerischen und sprachlichen Sorgfalt gearbeitet wurde, weiß ich wieder, warum ich auf Qualität statt Quantität setze.
Und jetzt entschuldigt mich bitte, ich muss über Plots brüten, Figuren erschaffen und böse Twists schreiben …